Third Quarter: Was ist „Scheme“?
Vorbereitung auf eine Saison
Die Vorbereitung einer NFL-Saison unter Kyle Shanahan
Wer sich mit der Planung einer NFL-Saison beschäftigt, wird schnell feststellen, dass es sich um einen äußerst vielschichtigen Prozess handelt, der von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird. Besonders bei Kyle Shanahan und seinem Trainerstab folgt dieser Prozess einer klar strukturierten Vorgehensweise, um sicherzustellen, dass die Offense optimal auf die kommende Spielzeit vorbereitet ist.
Jede neue Saison beginnt – wie auch bei allen anderen 31 Head Coaches der Liga – mit einer umfassenden Analyse der vergangenen Spielzeit. Dabei wird genau untersucht, welche offensiven Konzepte funktioniert haben und wo Anpassungen notwendig sind. Neben den eigenen Leistungen spielen auch ligaweite Entwicklungen eine Rolle – insbesondere, welche Trends sich in den defensiven Strategien abzeichnen und ob neue taktische Ansätze an Bedeutung gewinnen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die detaillierte Bewertung des aktuellen Kaders: Welche Spieler stehen zur Verfügung? Welche individuellen Stärken und Schwächen bringen sie mit? Und wie kann das Playcalling bestmöglich an die vorhandenen Ressourcen angepasst werden?
Auf Basis dieser Erkenntnisse definiert Shanahan die Kernprinzipien der Offense für die kommende Saison. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, Schwächen zu kaschieren, sondern vielmehr darum, die individuellen Stärken der Spieler so effektiv wie möglich in das System zu integrieren. Ein zentraler Aspekt ist dabei die gezielte Weiterentwicklung einzelner Akteure, um ihr Potenzial bestmöglich zu entfalten. Shanahans Philosophie war es meist, das System an seine Schlüsselspieler anzupassen, anstatt sie in ein starres Schema zu zwängen.
Aus den gewonnenen Erkenntnissen wird ein detaillierter Season Plan erstellt, der nicht nur die übergreifende taktische Ausrichtung der Offense definiert, sondern auch gezielte Anpassungsmöglichkeiten für den Verlauf der Saison enthält. Die sogenannten „Base Plays“ – fundamentale Spielzüge, die gegen verschiedene defensive Looks funktionieren – bilden dabei das Grundgerüst. Ergänzt wird dieses durch neue Konzepte, die im Laufe der Saison weiterentwickelt und situativ angepasst werden. Ziel ist es, eine klare offensive Identität zu etablieren, gleichzeitig, aber flexibel genug zu bleiben, um auf Herausforderungen im Saisonverlauf optimal reagieren zu können.
Praxisbeispiele: Erfolge und Herausforderungen
Die praktische Umsetzung dieser Strategie zeigt sich in konkreten Beispielen aus Shanahans Trainerkarriere. Ein bekanntes Beispiel ist die Saison 2012, als die damaligen Washington Redskins Robert Griffin III drafteten. Die Entscheidung für den Quarterback fiel vorrangig durch den Einfluss von Owner Dan Snyder, nicht durch Head Coach Mike Shanahan. Kyle Shanahan und sein damaliger Assistent Mike McDaniel standen vor der Herausforderung, einen Spieler in ihr System zu integrieren, der im College eine Offense gespielt hatte, die stark auf seine athletischen Qualitäten als Runner setzte – ein Stil, der nicht zur klassischen West-Coast-Offense der Shanahans passte. Um RGIII dennoch erfolgreich einzubinden, kombinierten sie ihre Offense mit Elementen aus dem College-Game und führten zahlreiche Read-Option-Plays ein. Griffin spielte überwiegend aus der Pistol-Formation, was ihm einfache Reads ermöglichte. Dieses revolutionäre Konzept führte ihn zur Auszeichnung als „Rookie of the Year“ und brachte Washington in die Playoffs. Doch das System hatte eine kurze Halbwertszeit: Griffin verletzte sich schwer und konnte nie wieder an seine Leistungen aus dem ersten Jahr anknüpfen. Zudem erkannten die Shanahans, dass eine solche Offense langfristig nicht tragfähig ist, da sich Defenses schnell darauf einstellen würden – eine Erkenntnis, die auch die 49ers mit Colin Kaepernick unter Jim Harbaugh und Greg Roman machten.
Ein weiteres Beispiel für Shanahans strategische Anpassungen zeigt sich in der Saison 2024, als er Christian McCaffrey als zentralen Fixpunkt seiner Offense etablieren wollte. Nach einer MVP-würdigen Saison 2023 war die Idee, McCaffrey nicht nur als klassischen Running Back, sondern verstärkt als Receiver gegen Man-Coverage einzusetzen. Dies sollte Brock Purdy klare Reads ermöglichen und anderen Spielern mehr Freiräume schaffen. Doch Verletzungen machten diesen Plan zunichte. McCaffrey verpasste aufgrund von Achillessehnen- und Muskelproblemen den Großteil der Saison und konnte in den wenigen Einsätzen nicht an seine frühere Form anknüpfen. Zusätzlich fielen weitere Schlüsselspieler aus: Rookie Ricky Pearsall wurde angeschossen, Brandon Aiyuk hatte mit Formproblemen zu kämpfen und erlitt später einen Kreuzbandriss. Ohne McCaffrey als verlässliche Option und ohne Receiver, die konstant Man-Coverage schlagen konnten, tat sich die Offense schwer. Besonders in der Red Zone fehlte der vielseitige Running Back als Matchup-Waffe, wodurch die Effizienz der 49ers in diesem Bereich deutlich litt. Trotz aller taktischen Fähigkeiten Shanahans gelang es nicht, eine konstante Offensive auf die Beine zu stellen.
Erstellung des Matchplans
Die Bedeutung von Spielvorbereitung und Scouting in der Shanahan-Offense
Eine der größten Stärken von Kyle Shanahan als Play-Caller ist seine akribische Spielvorbereitung, die auf einer detaillierten Analyse der gegnerischen Verteidigung basiert. Sein Offensivsystem zeichnet sich nicht nur durch ausgefeilte Play-Designs aus, sondern auch durch eine gezielte strategische Planung, die darauf abzielt, Schwächen in der gegnerischen Defensive konsequent auszunutzen. Dabei spielen drei zentrale Faktoren eine entscheidende Rolle: die Identifikation defensiver Schwachstellen, die Manipulation der Verteidigung durch Pre-Snap-Motion und verschiedenste Formationen sowie die flexible Anpassung des Gameplans an das eigene Personal.
Der erste Schritt in der Spielvorbereitung besteht aus einer umfassenden Analyse der gegnerischen Defensive. Shanahan und sein Trainerstab sichten dafür umfangreiches Videomaterial und identifizieren spezifische Muster und Tendenzen. Besonders im Fokus stehen dabei die bevorzugten Coverage-Strukturen der gegnerischen Defense – handelt es sich primär um Mann- oder Zonendeckung? Wie reagieren die Linebacker auf Play-Action-Fakes, und sind sie anfällig für falsche Winkel? Gibt es individuelle Defensivspieler, die Schwierigkeiten mit bestimmten Konzepten oder Täuschungsmanövern haben? Und nicht zuletzt: Wie positionieren sich die Safeties bei Bewegung im Backfield und lassen sich dadurch Räume für tiefe Pässe öffnen? Diese detaillierte Scouting-Arbeit ermöglicht es Shanahan, maßgeschneiderte Spielpläne zu entwickeln, die gezielt gegen die Schwächen der jeweiligen Defense arbeiten.
Ein weiteres zentrales Element seiner Offense ist der konsequente Einsatz von Pre-Snap-Motion und variablen Formationen. Diese dienen nicht nur dazu, die Verteidigung aus der Balance zu bringen, sondern auch dazu, die defensive Strategie frühzeitig zu entschlüsseln. Durch gezielte Bewegung vor dem Snap werden Verteidiger aus ihrer vorgesehenen Position gezogen, um Mismatches zu kreieren und defensive Strukturen zu destabilisieren. Gleichzeitig erlaubt es dem Quarterback, noch vor dem Snap Informationen über die Coverage der Defense zu sammeln – etwa, ob die Verteidigung in Mann- oder Zone-Coverage agiert. Zusätzlich sorgt diese ständige Bewegung für Verwirrung, da sich defensive Zuständigkeiten während des Snaps verändern und Abstimmungsprobleme entstehen können. Ein klassisches Beispiel für diese Strategie ist der Einsatz von „Jet Motion“, bei dem ein Receiver noch vor dem Snap quer über das Spielfeld läuft. Dies zwingt die Defense zu unmittelbaren Reaktionen und kann entweder Lücken im Laufspiel öffnen oder die Coverage so verschieben, dass sich Passfenster ergeben. Spieler wie George Kittle, Kyle Kyle Juszczyk, Deebo Samuel oder eben McCaffrey machen es der gegnerischen Defense allein dadurch schwer, dass diese im Prinzip auf jeder Position außerhalb der O-Line aufgestellt werden können. So tun sich Defensive Playcaller sehr schwer anhand von den Spielern auf dem Feld das nächste Play zu erahnen und darauf mit dem defensiven Call reagieren zu können.
Neben der Analyse der gegnerischen Defensive ist ein weiterer zentraler Bestandteil von Shanahans Strategie die Anpassung des Offensivsystems an die individuellen Stärken seiner eigenen Spieler. Sein System folgt keiner starren Philosophie, sondern ist flexibel darauf ausgerichtet, das verfügbare Personal optimal einzusetzen. Wenn ein Wide Receiver eine besondere Stärke gegen eine bestimmte Coverage hat, wird das Play-Design gezielt darauf ausgerichtet, ihn in diese vorteilhafte Situation zu bringen. Auch die Rolle des Quarterbacks wird entsprechend optimiert – während ein Spielmacher wie Brock Purdy mit schnellen, rhythmischen Pässen arbeitet, wird ein mobilerer Quarterback stärker in Bootlegs und Play-Action-Rollouts eingebunden. Besonders im Laufspiel wird diese Anpassungsfähigkeit deutlich: Da das Running Game ein zentraler Bestandteil seiner Offense ist, variiert Shanahan die Blocking-Schemes zwischen Inside-Zone, Outside-Zone und Gap-Schemes, je nachdem, welche Stärken die Offensive Line mitbringt.
All diese Elemente machen Shanahans Offense zu einer der variabelsten und gleichzeitig effektivsten in der NFL. Die Kombination aus tiefgehender Analyse, taktischer Manipulation der Defense und einer flexiblen Anpassung an das eigene Personal sorgt dafür, dass seine Offense unabhängig von Gegner, Quarterback oder verfügbaren Playmakern Jahr für Jahr zu den produktivsten der Liga gehört.
Play Calling während eines Spiels
Kyle Shanahan gilt als einer der kreativsten Play-Caller der NFL. Seine Offense folgt einer klaren Struktur, bleibt für Defenses jedoch schwer vorhersehbar, da sie auf mehreren fundamentalen Prinzipien basiert. Diese Prinzipien erschweren es Verteidigungen enorm, sich auf seine Spielzüge einzustellen und effektive Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Besonders prägend für sein Playcalling sind drei zentrale Aspekte: die Verknüpfung von Spielzügen, die bewusste Nutzung defensiver Regeln gegen die Verteidigung selbst und die Maximierung von Yards nach dem Catch (YAC) seiner physisch überdurchschnittlich starken Spieler.
Ein zentrales Merkmal der Shanahan-Offense ist die Art und Weise, wie verschiedene Spielzüge miteinander verknüpft werden – ein Konzept, das als „Tying Plays Together“ bekannt ist. Viele seiner Designs sehen auf den ersten Blick identisch aus, haben jedoch völlig unterschiedliche Angriffspunkte, wodurch die Defense gezwungen wird, auf Verdacht zu reagieren. Ein klassisches Beispiel ist das Outside-Zone-Laufspiel, bei dem die Formation vor dem Snap optisch identisch ist, aber je nach Call auch ein Play-Action-Pass oder ein Bootleg herauskommen kann. Sowohl die Offensive Line als auch der Quarterback führen zu Beginn dieselben Bewegungen aus, sodass Linebacker und Safeties erst im letzten Moment erkennen können, worum es sich tatsächlich handelt. Die Folge: Ein Moment des Zögerns reicht oft aus, um große Raumgewinne zu ermöglichen. Da jeder Spielzug eine potenzielle Fortsetzung oder Variation eines vorherigen sein könnte, werden Defenses permanent unter Druck gesetzt, schnelle Entscheidungen zu treffen – mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für Fehler.
Ein weiterer entscheidender Aspekt ist Shanahans Fähigkeit, die Grundprinzipien einer Defense gegen sie selbst zu verwenden. Seine Play-Designs stellen Verteidiger regelmäßig vor Dilemmas, bei denen es keine optimale Entscheidung gibt. Linebacker, die ihre Position halten, um das Laufspiel zu stoppen, riskieren, im Passspiel ausmanövriert zu werden. Verteidiger, die zu aggressiv gegen den Lauf nach vorne rücken, hinterlassen offene Räume im zweiten Level, die Shanahan gezielt mit Crossing Routes, Leak-Konzepten oder verzögerten Routen von Tight Ends attackiert. Die Defense ist somit gezwungen, auf Bewegungen zu reagieren, anstatt das Spielgeschehen aktiv zu kontrollieren – ein Grund, warum Shanahans Offense oft so mühelos freie Passoptionen kreiert. In anderen Situationen nutzt Shanahan intuitive Bewegungen von Defendern aus, die ihm beim Tape Studium aufgefallen sind und kann so. z.B. durch einen Double-Move überaggressiven Defense-Spieler auf die falsche Bahn schicken und einen offenen Wurf für seinen QB erzeugen.
Der dritte Eckpfeiler seiner Philosophie ist die Maximierung von Yards nach dem Catch (YAC). Während viele Offensivsysteme daraufsetzen, dass Receiver spektakuläre Catches in engen Fenstern machen, legt Shanahan den Fokus darauf, seine Playmaker, die alle über eine starke Physis verfügen, nach dem Catch in optimale Situationen zu bringen. Sein System basiert darauf, Defenses in Bewegung zu versetzen und so Räume zu schaffen, in denen Spieler nach dem Fang möglichst viele Yards erzielen können. Besonders in Kombination mit „Tying Plays Together“ ergeben sich im Laufe des Spiels immer wieder neue Möglichkeiten, Defenses auszuspielen. Sobald auf Tape eine bestimmte Bewegung eines Verteidigers erkannt wird, die sich ausnutzen lässt, entsteht darauf aufbauend das nächste Play-Design, um genau diese Schwachstelle zu attackieren.
Diese konsequente Ausrichtung auf YAC ist einer der Hauptgründe, warum Shanahans Offense auch mit Quarterbacks, die nicht zur absoluten Elite gehören, hocheffizient bleibt. Anstatt komplizierte, vertikale Würfe zu forcieren, schafft er ein System, das es seinen Spielern ermöglicht, nach dem Catch den Unterschied zu machen. Die Kombination aus perfekt aufeinander abgestimmten Spielzügen, der gezielten Manipulation der Defense und der Maximierung von Raumgewinnen nach dem Fang macht Shanahans Offense zu einer der innovativsten und effektivsten der NFL.
Aber welche Auswirkungen hat das Scheme nun auf die Quarterbacks? Sind diese nun besser oder schlechter als der Rest oder könnte man da auch Division II QB hinstellen, der ähnliche Werte liefert? Dazu sollte das letzte Quarter Aufklärung bringen: Fourth Quarter: Shanahan und seine Quarterbacks
Autor: Chris Pracher