In jeder NFL-Saison gibt es den einen großen Gewinner – und 31 Verlierer. Am härtesten trifft es den Super Bowl-Runner Up, dem meist der sogenannte „Super Bowl Hangover“ vorhergesagt wird. Doch was ist dran an diesem Mythos? Und: wie gefährdet sind die 49ers?
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Die große Leere
Nachdem RB Raheem Mostert einen neustrukturierten Vertrag bei den San Francisco 49ers unterschieben hatte, nahm er kein Blatt vor den Mund: auch in der nächsten Saison gibt es für die Mannen von Kyle Shanahan erneut nur ein Ziel – den Einzug in den Super Bowl. Doch dieses Mal soll es das Happy End geben, nach dem sich die 49ers schon Anfang dieses Jahres gesehnt hatten.
Ähnlich wie Defensive End Nick Bosa ergeht es vielen San Francisco 49ers-Fans wohl bis heute. Das vierte Quarter gegen die Kansas City Chiefs im Hardrock Stadium in Miami ist ein Tabuthema. Doch für das Team und die Coaches darf es nicht länger darum gehen, Trübsal zu blasen, sondern den Blick nach vorne zu richten. Es ist davon auszugehen, dass sich Head Coach Kyle Shanahan genau diese Phase des Spiels öfter angeschaut hat, als viele andere (erfreulichere) Szenen, um etwaige Fehler auszumerzen und in Zukunft zu vermeiden.
Nur sieben Minuten trennten die 49ers, die in der vorherigen Saison noch um den First Overall Pick buhlten, vom ganz großen Wurf. Trotz vieler Kritiker, die immer wieder Ansatzpunkte suchten, den Erfolg der 49ers zu schmälern, ließ sich das Team nicht aus der Bahn werfen. Das Spiel gegen die Chiefs hatte man über weite Strecken im Griff, die zuvor hochgelobte Defense bereitete Superstar Patrick Mahomes gehörige Schwierigkeiten. Auch der oft hinterfragte Jimmy Garoppolo lieferte bis dato eine grundsolide Vorstellung ab. Alles sah danach aus, als könnten die 49ers ihren sechsten Super Bowl-Erfolg feiern.
Es kam bekanntlich anders: die Chiefs holten das Momentum zurück auf ihre Seite, bei den Niners lief plötzlich nichts mehr zusammen. Ein Einbruch, der auf lange Sicht gesehen schwerwiegende Folgen haben könnte. So spricht man doch nicht allzu selten vom populären „Super Bowl Hangover“: der Verlierer des Super Bowls habe es im nachfolgenden Jahr besonders schwer, erneut ins Endspiel der NFL einzuziehen, heißt es.
Run it back?
Der Spirit war bei den 49ers auch nach dem verlorenen Super Bowl eindeutig. Trotz aller Enttäuschung sprachen viele Spieler bereits davon, im nächsten Jahr erneut angreifen zu wollen. Natürlich – was bleibt ihnen auch anderes übrig?
Diesen Worten Taten folgen zu lassen, ist leichter gesagt als getan. Doch wie viel hat dies tatsächlich mit der Rolle des Super Bowl Runner-Ups zu tun? Ereilt diese Mannschaften tatsächlich ein „Fluch“, wovon vielerorts zu hören ist? Werfen wir einen Blick auf die Geschichte.
Nur acht Teams standen in der NFL-Historie im Folgejahr nach einem verlorenen Super Bowl erneut in diesem. Von diesen acht Mannschaften gelang es lediglich dreien, die Vince Lombardi-Trophäe in die Höhe zu stemmen (Cowboys ’71, Dolphins ’72, Patriots ’18). Die Statistik spricht also nicht zwangsläufig für den fünfmaligen Super Bowl-Sieger aus der Bay Area.
Der Fehler liegt im Detail
Doch die Zahlen zeigen auch, dass nicht nur der Verlierer des Super Bowls scheinbar vor keinem einfachen Jahr steht: Insgesamt elf Mal erreichten die Vorjahressieger auch im Folgejahr den Super Bowl, sechs Mal gewann ein Team „back to back“-Super Bowls.
Letztendlich scheint – glaubt man den Fakten – der Super Bowl-Verlierer doch einen steinigeren Weg vor sich zu haben, als der Gewinner. Lässt sich hieraus jedoch eine klare Tendenz entnehmen? Diese These dürfte zumindest kritisch hinterfragt werden.
Wie in anderen Lebensbereichen gilt auch für die NFL, dass des Öfteren die Betrachtung des konkreten Einzelfalls hilfreich ist, um den genauen Kontext einer Aussage erkennen zu können. Hier kann zunächst ein Blick auf die jüngere Vergangenheit helfen, um zu verstehen, dass Phänomene wie ein „Super Bowl Hangover“ nicht lediglich an Zahlen festgemacht werden können.
Der Beginn soll an dieser Stelle mit den 49ers selbst gemacht werden, die in der 2012er-Saison den Super Bowl gegen die Baltimore Ravens verloren. Im Jahr zuvor und im Jahr darauf unterlag man denkbar knapp im NFC Championship Game. Zu dieser Zeit hatten die 49ers eines der besten, wenn nicht das beste Roster der NFL. Für den Titel reichte es dennoch nicht. Mehrere Jahre des Scheiterns folgten.
Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Erfolg in der NFL alles andere als garantiert ist. Drei Jahre in Folge mindestens im Championship Game zu stehen, erfordert neben einer Menge harter Arbeit und Willen auch die vorhandene Qualität im Roster. Bei den Niners zerbrach dieses gute Grundgerüst schlagartig, nachdem man drei Mal nur knapp am Ziel vorbeischrammte. Auch dieses Szenario ist nicht unwichtig: Trotz einer guten Grundbasis kann andauernder „Misserfolg“ dazu führen, dass dieses Gebilde zerbröckelt.
Vorbild Patriots: Der Weg zum dauerhaften Erfolg?
Ein gutes Gegenbeispiel hierfür sind die Seattle Seahawks und New England Patriots. Obwohl Seattle nun seit der 2014er-Saison nicht mehr im Super Bowl stand, verpasste das Team von HC Pete Carroll seitdem nur einmal die Playoffs. Und auch dieser Erfolg darf nicht unterschätzt werden: Die Playoff-Teilnahme in der NFL über mehrere Jahre in Folge zu sichern, dürfte zu einer der schwersten Aufgaben eines Regimes gehören. Langfristiger Erfolg in der NFL ist das, worauf viele Teams hinarbeiten – die meisten scheitern jedoch. Die Vorreiter sind hier natürlich die Patriots unter Bill Belichick, die in dieser Hinsicht seit Jahren neidische Blicke auf sich ziehen. Anders als bei den Seahawks erholten sich die Patriots auch von ihrer letzten Super Bowl-Pleite im Jahr 2018. Sie holten im nächsten Jahr die Lombardi-Trophy nach Boston.
Die Regular Season geht über 16, bald 17 Spiele, sodass anhand von anhaltenden Play-Off Teilnahmen durchaus der langfristige Erfolg von Teams gemessen werden kann. Etwas anderes gilt wohl für das Abschneiden dieser Teams in den Playoffs. Denn ab dort heißt es bekanntlich: der Verlierer fliegt. Eine beständige Leistung in der Regular Season indiziert keine Erfolgsgarantie für die Playoffs: Eine schlechte Performance und schon kann eine noch so positiv verlaufende Saison beendet sein (siehe Baltimore in der letzten Spielzeit).
In den Playoffs selbst entscheiden viele Faktoren: Erfahrung, Tagesform, Spielverlauf, Verletzte u. v. m. Ein „schlechter Tag“ kann nicht in der nächsten Woche korrigiert werden. Es ist demnach durchaus möglich, dass Teams, die sogar im Super Bowl standen, in der nachfolgenden Saison augenscheinlich besseren Football spielen – aber dennoch den Super Bowl verpassen. Hier von einem Super Bowl-Hangover zu sprechen, erscheint in vielerlei Hinsicht vermessen.
McVay und die Rams als schlechtes Omen?
Und dennoch gibt es Beispiele, die für die Annahme sprechen, ein Super Bowl-Loss könnte langwierige, negative Folgen haben. Hier denken viele an die Entwicklung der Los Angeles Rams oder Atlanta Falcons. Beide Teams schafften es nach ihren Niederlagen gegen die New England Patriots nicht, an ihre Leistungen aus dem Vorjahr anzuknüpfen.
Doch auch hier gilt, dass ein tieferer Blick vonnöten ist, um in diesem Fall den Misserfolg der jeweiligen Teams nachzuvollziehen. Während die Falcons mit ständigem Verletzungspech und personellem Aderlass (unter anderem bei den Coaches, zum Beispiel Shanahan) zu kämpfen hatten, wurden die Rams bereits während ihres Super Bowl-Runs systematisch entschlüsselt. Einige namhafte Abgänge in der O-Line und Transaktionen, die dafür sorgten, dass man in den letzten und nächsten Jahren über kaum Draft-Kapital verfügt/e, machen die Rams zu einem (negativen) Sonderfall. Hinzu kommt, dass sich die NFC West weiter verstärkte, beziehungsweise auf einem hohen Niveau blieb. Auch dieser Faktor kann ebenfalls eine Rolle spielen, wenn es um andauernden Erfolg geht.
Und nun? Was die 49ers erwartet.
Die 49ers selbst strotzen nur vor Selbstbewusstsein und sind gewillt, im nächsten Jahr erneut den Super Bowl zu erreichen und zu gewinnen. Vergleicht man das Team mit den Verlierer-Teams aus den letzten Jahren, gibt es gute Gründe daran zu glauben, dass ein „Hangover“, sollte er existieren, abgewendet werden kann. Das Grundgerüst steht, mit Kyle Shanahan und John Lynch sind die wohl wichtigsten Köpfe lange an die Franchise gebunden. Die Kultur, die die beiden etabliert haben, ist auf Langlebigkeit ausgelegt. Gerade dies betonen beide auch immer wieder in ihren Aussagen. Die Spieler fühlen sich in der Organisation wohl und wertgeschätzt, ein Aspekt, der sich auch auf dem Platz widerspiegelt. Die vor kurzer Zeit bekanntgegebene Verlängerung mit Superstar TE George Kittle unterstreicht dies eindrucksvoll.
Das Team ist mit gespickt mit jungen Talenten, die noch für eine lange Zeit in der NFL für Aufsehen sorgen können (Kittle, Bosa, Warner, Samuel etc.). Ob und wie all diese Spieler gehalten werden können, ist nicht vorherzusehen. Die Niners haben jedoch gezeigt, dass auch Abgänge von Top-Stars (Buckner, Sanders) sie nicht zurückschrecken lässt. Stimmt die Kompensation oder möchte ein Spieler zu viel Geld sehen, trifft man Business-Entscheidungen, um das Team mit dem vorhandenen oder erworbenen Kapital wieder potentiell zu verbessern.
Ein Punkt, der im Auge behalten werden sollte: Sofern es die Niners tatsächlich erneut in den Super Bowl schaffen und dann wiederholt als Verlierer vom Feld gehen, ist fraglich, wie sich dies auf die Franchise auswirken wird. Kyle Shanahan könnte seinen Ruf als „Versager“ in den Big Games endgültig patentieren lassen, das Personal wird teurer und ungeduldiger. Ein sicherlich unschöner Gedankengang, der jedoch nicht außer Acht gelassen werden darf.
Trotz guter Ausgangslage: Garantiert ist nichts!
Die allgemeine Vorgehensweise lässt dennoch darauf hoffen, dass die 49ers den Weg in Richtung des langfristigen Erfolgs à la Patriots einschlagen können. Die Gefahr der Regression und andere denkbare Distractions sind selbstverständlich nicht zu unterschätzen. Doch auch wenn die 49ers den Super Bowl nicht erneut erreichen sollten, bedeutet das nicht, dass sie keine gute Saison spielen können.
Die Grundlagen, die in und um Santa Clara gelegt worden sind, sind bestens. Doch sind sie gut genug, um die vielen Komponenten für einen erneuten Super Bowl-Einzug zu erfüllen? Diese Frage kann nicht beantwortet werden – zu sehr liegt der Fehler im Detail.
Only time will tell!
Autor: Lars Riedenklau