Die Brock Purdy Debatte ist für jeden 49ers-Fan, aber auch jeden nicht 49ers-Fan, eine unglaublich anstrengende. Ein Kommentar.
49ers-Fans schaffen es in den seltensten Fällen die Fanbrille abzusetzen, was Fans der meisten anderen Teams, zurecht, nervt. Aber auch neutrale Beobachter müssen es schaffen, sachlich zu diskutieren. Denn die meisten Argumente gegen Brock Purdy sind einfach nur schlicht falsch und jene Fans, die nicht jedes Spiel sehen bzw. sich im Detail mit ihm beschäftigen, versuchen ihn aus diversen Gründen immer wieder kleinzureden. Dass Purdy gute Umstände hat, bestreitet kein 49ers-Fan – ihn darauf zu reduzieren ist aber falsch.
Ich versuche in diesem Artikel einige Argumente im Narrativ um Brock Purdy zu adressieren, danach kann sich jeder seine eigene Meinung zu diesem Thema bilden.
Die Umstände
Wie oben bereits beschrieben: Brock Purdy hat gute Umstände, vermutlich momentan auch die besten der NFL. Das wird jeder 49ers-Fan ohne Probleme zugeben.
Wenn man allerdings auf die Offensive Line blickt, ist jene der 49ers im PFF-Ranking dort nur auf Rang 22. In diesem Diagramm wird Brock Purdys Effizienz trotz schlechter Pass Protection gut dargestellt:
Über den Fakt der Offensive Line wird in dieser Debatte quasi nie gesprochen.
Im Vergleich dazu hat Jalen Hurts die beste Offensive Line der gesamten NFL (per PFF). Außerdem hat er AJ Brown und Devonta Smith als seine Top-Wide Receiver, die beide in etwa auf dem gleichen Level wie ein Deebo Samuel und Brandon Aiyuk einzuordnen sind. Außerdem hat er Dallas Goedert, der ein Top-10 Tight End in der NFL ist. Ja, Hurts hat keinen Christian McCaffrey, aber dennoch sind seine Umstände vom Spielermaterial her kaum schlechter.
Auch ein Dak Prescott hat eine Top-5 Offensive Line (per PFF). Dazu die WR Ceedee Lamb, Brandin Cooks, Michael Gallup, RB Tony Pollard und TE Jake Ferguson. Prescott hat ein sehr starkes Team um sich herum, worüber auch selten gesprochen wird.
Wenn man Quarterbacks nur aufgrund der Umstände evaluiert, hätte z.B. ein Joe Montana, mit Jerry Rice, Roger Craig und Bill Walsh als HC oder ein Patrick Mahomes mit Tyreek Hill, Travis Kelce und Andy Reid auch nie in der MVP-Diskussion sein dürfen. Fakt ist einfach, dass meistens der Quarterback MVP wird, der in der besten und effektivsten Offense spielt.
Kyle Shanahan
Hat Brock Purdy einen der besten Playcaller und Playdesigner als Coach? Ja! Und auch das wird kein 49ers Fan verneinen. Allerdings wird zu hinterfragen sein, ob die komplexe Offense bzw. das komplexe Scheme von Kyle Shanahan die Offense einfach aussehen lässt, wenn man sie versteht – oder ob wirklich auch ein Walmart-Verkäufer diese Offense laufen könnte. Ich lehne mich nicht aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass es wohl eines der schwersten Aufgaben ist, die Offense von Shanahan so zu managen, wie es Brock Purdy tut. Natürlich ist die Offense Quarterback-freundlich aufgebaut. Die Umsetzung des Ganzen ist jedoch lange nicht so einfach, wie es letztlich aussehen mag.
Das Narrativ, dass Purdy „nichts“ machen müsse und nur zu weit offenen Receivern wirft, ist aber auch schlichtweg falsch. Purdy liegt bei Average Separation der Receiver und Würfen zu weit offenen Receivern im oberen Drittel. Lamar Jackson und Trevor Lawrence sind nur zwei Beispiele für andere Quarterbacks, bei denen die Receiver durchschnittlich mehr Separation kreieren. Josh Allen, Patrick Mahomes, Joe Burrow, Russell Wilson und Jared Goff haben alle mehr Würfe zu weit offenen Receivern als Purdy. Bei keinem dieser Quarterbacks, außer Jared Goff, wird über diesen Fakt gesprochen. Man hört immer nur bei Purdy, dass er doch sowieso nur zu weit offenen Receivern werfe.
Was man außerdem in keiner Statistik belegen kann, ist, wie oft Purdy Räume für seine Pass-Catcher mit seinen Augen öffnet. Dass macht natürlich nicht nur er, sondern auch alle anderen Quarterbacks in der Liga zu einem gewissen Grad. Aber Purdy ist einer der besten der Liga, wenn es darum geht, Safeties und Linebacker mit seinen Augen zu bewegen. Außerdem wirft Purdy mit unfassbar guter Antizipation und Timing, wodurch sehr vieles sehr viel einfacher aussieht, als es eigentlich ist.
Hier ein gutes Beispiel für Purdys Antizipation und Timing. Brandon Aiyuk ist noch nicht mal in seinem Cut, der Ball wird aber schon geworfen und Purdy wird gehittet. Bei den meisten anderen QBs endet dieses Play in einem Sack:
Im Spiel zwischen den Eagles und den 49ers hatte Jalen Hurts mehrere Male weit offenen Receiver und läuft dann aber aus der Pocket und bringt den Ball an. Wenn man nur die TV-Copy des Spiels sieht, denkt man an dieser Stelle zurecht, dass Hurts keinen freien Mann hat und daraus trotzdem ein gutes Play macht. Im All-22-Film sieht man allerdings, dass das nicht der Fall ist. Und hier beginnt eines meiner Problem im deutschsprachigen Twitter. Die meisten Leute haben keine Zeit/Lust, sich das Tape anzusehen bzw. wissen auch nicht auf was man speziell schauen muss. Daraus resultiert, dass Hurts nach so einem Play deutlich besser dargestellt wird, weil er eben ein spektakuläreres Play macht. Mit der O-Line der 49ers würde Hurts mit solchen Plays nicht so häufig erfolgreich sein, wie mit der besten O-Line der Liga. Und dieses Play war kein Einzelfall. Hurts hatte mindestens 7-8 andere Plays, die ähnlich waren. Bei Hurts heißt es dann er kreiert außerhalb der Struktur, während man bei Purdy über einen einfachen Wurf spricht.
,,Brock Purdy spielt in einer simplen Kurzpass-Offense und sein Passing Chart gegen die Eagles zeigt ja, dass er immer nur kurze Pässe wirft und dass seine Receiver alle seine Yards nach dem Catch holen‘‘
Dass Purdy in einer simplen Kurzpass-Offense spielt, habe ich auf TikTok gehört. Dass die Offense von Kyle Shanahan simpel ist, wird dir aber jeder Spieler der jemals unter ihm gespielt hat zurecht verneinen.
Beim 2. Argument, dem Passing Chart gegen die Eagles sind wir wieder bei einem oben bereits angesprochenen Problem. Nicht jeder schaut jedes Spiel und das ist auch völlig in Ordnung. Dieses Argument lässt sich leicht durch die Statistik „Average Depth of Completion.“ widerlegen In dieser liegt Purdy auf Rang 1. Dazu hat Purdy ein Passer Rating von 135.8 bei Würfen von 10+ Yards und hat gleich viele 20+ Yards Touchdowns wie Dak Prescott – bei deutlich weniger Attemps.
Durch diese Statistiken war der Gameplan der Eagles ganz offensichtlich. Keine Completions über 10 Yards, vor allem über die Mitte, zulassen und dann versuchen effektiv zu tacklen. Dass das nicht besonders gut gelungen ist, ist allen bekannt. Aber hier sind wir bei einem weiteren Problem was ich in dieser Brock Purdy Diskussion habe:
Auf Social Media ist im Anschluss daran dann wieder zu lesen, dass Purdy nur kurze Pässe werfe. Ich erlaube mir jedoch die Frage: Was soll er denn machen, wenn ihm die Eagles die kurzen Pässe geben, weil sie Angst vor den Big Plays haben? Auch hier sind nicht alle Würfe gleich einfach. Beim ersten Touchdown von Deebo Samuel blitzen die Eagles mit fünf Mann und spielen dahinter Zone Coverage. Purdy bekommt von seiner O-Line gute Protection, geht durch seine Reads und findet dann Deebo Samuel, der übrigens sein 4. (!) Read war.
Ein anderes Narrativ, was ich nicht verstehe ist, warum kurze Pässe automatisch bedeuten, dass jemand nicht so gut ist. Früher sprach man unter z.B. Drew Brees von ,,sezieren‘‘ der Defense (,,picking apart the defense‘‘), heute werden Quarterbacks, die underneath effektiv sind, im Social Media Bereich als vermeintlich schlechter abgestempelt.
Die Yards after the Catch-Diskussion ist bei Purdy nach dem Spiel gegen die Eagles ebenfalls wiederaufgekommen. Auch hier liegt Purdy im oberen Drittel, allerdings wird nur in seinem Fall dieses Argument verwendet, um ihn zu diskreditieren. Die Chiefs, Dolphins, Commanders, Bengals und Bills liegen in der Statistik „Yards after the catch“ alle vor den 49ers. Durchschnittlich 48,5% der Passing Yards von Brock Purdy kamen in dieser Saison nach dem Catch. Patrick Mahomes gewann den MVP Award im letzten Jahr mit 54% YAC. Dass die 49ers nichtsdestotrotz viele YAC generieren – und das auch in einem Umfang, der für die Tiefe von Purdys Targets überdurchschnittlich gut ist – steht außer Frage. Es ist aber bei Weitem nicht so, als würden Purdys Passing Yards (mittlerweile 3.553 bei nur 359 Attempts/9,9 Yards pro Attempt) primär durch Yards nach dem Catch zu Stande kommen. Er liegt hier im Liga-Mittelfeld und steht früheren MVPs in dieser Kategorie in nichts nach. Sein „Average depth of target“ liegt laut PFF bei 8,5 Yards. Damit liegt er in der NFL auf einem geteilten 8. Platz, u.a. gemeinsam mit Trevor Lawrence und Josh Allen. Patrick Mahomes Wert liegt bei 7,2, Dak Prescott bei 8,6. Purdy ist also auch hier sogar im oberen Durchschnitt anzufinden. Nicht schlecht für einen „Checkdown Merchant“…
Ein weiterer Stat, der vor allem nach dem Seahawks-Spiel auftauchte, war, dass Purdy bei Plays hinter die Line of Scrimmage zwar ein enorm hohes EPA/Play aufweist. Dies ist jedoch eher ein Lob für die gesamte Offense, da außer Acht gelassen wurde, dass Purdy bei nur 14% seiner Passversuche auch hinter die Line of Scrimmage wirft. Beispielsweise ein Patrick Mahomes hat hier doppelt so viele Würfe in dieser Kategorie. Zyniker würden ihm an dieser Stelle auch Stat-Padding vorwerfen, was genauso schwachsinnig ist, wie Brock Purdy darauf zu reduzieren.
,,Brock Purdy ist nicht der MVP dieser Offense!‘‘
Dieses Argument ist das wohl einfältigste von allen. Die Quarterback-Position ist die wichtigste Position auf dem Football Feld, ganz irrelevant, wie gut die Spieler um ihn herum sind. Das NFC Championship-Spiel im letzten Jahr ist das beste Beispiel dafür. Als Josh Johnson in das Spiel kam hat man gesehen, dass es doch nicht ganz so einfach ist, in dieser Offense Quarterback zu spielen, wie es von den Kritikern immer behauptet wird. Und wie viel besser die Offense unter Brock Purdy als unter Jimmy Garoppolo ist, ist auch allseits bekannt. Es ist dementsprechend schwer zu begründen, dass ein Quarterback zwar immer der wichtigste Spieler einer Offense ist, diese richtige Annahme bei Brock Purdy aber offenbar nur eingeschränkt anwendbar ist.
Die Statistiken
Wenn man rein auf die Statistiken schaut, dann besteht wenig Zweifel wer der NFL-MVP in diesem Jahr sein sollte. Brock Purdy führt hier in der wohl wichtigsten, nämlich ,,EPA – Exxpected Points Added‘‘ und das sogar mit deutlichem Vorsprung. Die letzten sieben Jahre hat jeweils der Quarterback, der nach EPA ganz oben lag, den MVP-Award gewonnen. Aber es ist nicht nur EPA, Brock Purdy liegt in fast jeder wichtigen Statistik auf Platz 1:
Gerne argumentiert wird auch mit Purdys zugegeben hoher Turnover-worthy-play-Rate, die PFF erhebt. Hier hat er aktuell 15 solcher Plays, was absolut gesehen nicht mehr ist als ein Josh Allen (14) oder Patrick Mahomes (15). Dadurch dass Purdy allerdings weniger Dropbacks versucht, ist seine Percentage entsprechend höher (3,5%), damit rangiert er im oberen Durchschnitt – was in diesem Fall nicht gut ist. Gegenüber steht dem Ganzen allerdings die Statistik seiner „Big time throws“. Davon zählt PFF 23, was 6% entspricht. Relativ gesehen liegt er damit auf Rang 5 der NFL. High risk, high reward? Sicherlich auch. Allerdings berücksichtigt PFF bei den Turnover-worthy-plays auch Fumbles und Plays, die in einer Flagge enden und somit ohne nicht gezählt hätten. Vertrauenswürdiger in Bezug auf die risikoreichen Würfe ist die Statistik von Kevin Cole, der Pässe chartet, die ein hohes Risiko hatten, in einer Interception zu enden. Absolut gesehen liegt Brock Purdy hier im unteren Mittelfeld, relativ gesehen ist keine erhöhte Turnover-Quote zu erwarten. Dieses Argument lässt sich also auch teilweise entkräften.
Danke für diese Grafik an Chris!
Die Experten
Die Meinungen bei den Experten im deutschsprachigem Raum und denen in der USA sind teilweise komplett verschieden. Während in Deutschland kaum ein Experte Brock Purdy in die MVP-Diskussion wirft, ist das in den USA das Gegenteil. Aber warum ist das so?
UPDATE: Dieser Abschnitt hat zu kontroversen Diskussionen geführt, da es berechtigterweise Kritik an der Wortwahl gegeben hat. Aus Transparenz-Gründen lassen wir diesen Part unverändert im Bericht stehen, erlauben uns aber folgenden Disclaimer: Der nachfolgende Part soll ausdrücklich kein Vorwurf sein, dass deutsche Experten a) über weniger Wissen verfügen und b) mehr Ressourcen in Form von Geld gleichzeitig besseren Content bedeutet. Es sollte lediglich klar gestellt werden, dass in Deutschland nur wenige deutsche Experten die Zeit haben, sich intensiv mit dem All-22-Tape auseinanderzusetzen. Was allerdings keinesfalls bedeuten soll, dass *die* Leute, die es tun, es deswegen schlechter machen.
Wir möchten an dieser Stelle daher um Entschuldigung bitten. Es war nicht unsere Intention, Content-Creator, TikToker oder andere Experten herabzuwürdigen. Es tut uns leid, falls dieser Eindruck aufgrund der unreflektiert und missverständlichen gewählten Worte unsererseits bereits entstanden sein sollte.
In den USA verdienen Experten signifikant mehr als in Deutschland und haben deutlich mehr Möglichkeiten. Quasi kein deutscher Experte hat die Zeit, sich intensiv mit dem Tape der Top-Quarterbacks in der Liga zu beschäftigen, während Leute wie Kurt Warner, J’T O’Sullivan, Chase Daniel oder Kurt Benkert tagtäglich genau diesen Job erledigen. Und der Unterschied in der Diskussion ist enorm. Jeder dieser US-Experten erwähnt es regelmäßig: Brock Purdy gehört in die MVP-Diskussion und ist momentan einer der besten Quarterbacks in der Liga. Wenn man sich das Tape regelmäßig ansieht, besteht darin kein Zweifel.
Auch die Wettanbieter sehen Brock Purdy als einen der Frontrunner auf den MVP-Award. Dennoch wollen mir deutsche Fans immer noch erzählen, dass Brock Purdy nicht so gut ist und nicht der MVP sein kann. Warum denken so viele Personen auf den Social Media-Plattformen, dass sie so viel schlauer sind als die US-Experten? Oder ist man einfach aus Prinzip gegen Brock Purdy? Dafür habe ich keine rationale Erklärung…
An dieser Stelle noch ein Shoutout an Jan, Valentin und Marek vom „Football Wohnzimmer„-Podcast, die die ganze Thematik und Diskussion in unseren Augen hervorragend in ihrer letzten Folge dargestellt haben – ohne Brock Purdy gleichzeitig zum MVP zu krönen (ab 01:15:30).
Die direkten Duelle
Das letzte Argument, was für Brock Purdy spricht, sind die direkten Duelle gegen Dak Prescott und Jalen Hurts. Beide Spiele wurden deutlich gewonnen –und Purdy spielte quasi fehlerfrei. Außerdem warf Prescott im Spiel gegen die 49ers drei Interceptions.
Fazit
Am Ende hat jeder seine eigene Meinung. Meinungen sind verschieden – und das ist auch gut so. Dennoch war es mir wichtig, einige Argumente, die einfach faktisch zu wiederlegen sind, geradezurücken und so einige Narrative klarzustellen. Mir ist es wichtig, dass Leute einfach sachlich und fundiert argumentieren, ohne ständig Narrative zu erfinden oder ohne Belege in den Raum werfen.
Dak Prescott und Brock Purdy sind momentan die Frontrunner im MVP Rennen. Sollte Purdy mit den 49ers aber den 1st-Seed holen und auch gegen die Baltimore Defense abliefern, dann besteht für mich kein Zweifel wer NFL-MVP werden muss…